[Artikel des Monats Juli 2022]
"Teile und herrsche"
Thomas Kaufmanns jüngstes Buch „Die Druckmacher“ zeigt auf, was die Generation Luther sprachfähig machte
by Tanja Kasischke
Die Reformation begann an der Druckerpresse. Wie der Hammerschlag dramaturgisch umgesetzt war, mit dem Martin Luther am Abend des 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen ans Portal der Wittenberger Schlosskirche heftete (falls er ihn selbst ausführte, woran gezweifelt werden darf), und wie viel Dichtung der Wahrheit sukzessiv beigemischt wurde, ist für den Ausgangspunkt des Geschehens irrelevant. Entscheidend war: Luthers Thesen wurden zweimal veröffentlicht; einmal am Kirchportal, das damals die Funktion eines Schwarzen Bretts hatte, ein weiteres Mal in der Druckmetropole Leipzig. „Nicht mehr der traditionelle institutionelle Ort des intellektuellen beziehungsweise wissenschaftlichen Konfliktaustrags, die Disputation, wurde gesucht, sondern der freie, räumlich entgrenzte Diskurs derer, die sich zu einer Meinungsäußerung über anspruchsvolle Thesen berufen fühlten“, schreibt der Göttinger Historiker Thomas Kaufmann. In seinem jüngsten Buch „Die Druckmacher“ rollt er die erste Medienrevolution auf, analysiert den Buchdruck als Erfolgsfaktor für die Generation Luther – und umgekehrt
Unstrittig war die Bevölkerung zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Krisenmodus; die Zeichen standen auf Veränderung. Die Weltsicht hatte sich durch Kolumbus’ Reisen verschoben, der westliche Horizont wurde weiter, dafür rückten von Osten die Türken bis Wien und führten den Menschen die eigene Endlichkeit ihres Raumes und ihres Daseins vor Auge. Angst war die eine Variable, Neugier die andere. Denn zugleich eröffnete der um 1450 einsetzende, mechanische Buchdruck neue Welten; er revolutionierte die Verfügbarkeit von Wissen und Information und passte die Kommunikation den ökonomischen Vernetzungsstrukturen an. Thomas Kaufmann schreibt anschaulich über den Hype Handlungsreisender, die sich mit Reproduktionsmethoden vertraut machen, sowie über Büchermenschen, die sich darin überboten, neue Publikationen zu erwerben. Johannes Reuchlin, dessen 500. Todestag wir in diesen Tagen (30. Juni 1522) begehen, war einer davon. Seinem Großneffen Philipp Melanchthon vererbte er beides, den Einsatz für die Demokratisierung der Bildung „wider der Mönchsherrschaft“, als auch das „tendenziöse Narrativ“, das mit der schnelleren, mitunter unreflektierten Verbreitung von Nachrichten einherging. Kaufmann gibt zu bedenken, dass sich das Papsttum die neuen Formen der Kommunikation gleichermaßen dienstbar machte; Stichwort Ablass.
Dem Reformationskenner gelingt ein populärwissenschaftliches Narrativ, dass den Band leicht lesbar macht. Wer sich nicht dezidiert mit der DNA der Lutherzeit auskennt, muss keine Überforderung fürchten. Das Wesen des Buchdrucks und die Intention der Massenmedien sind stringent übersetzt: Teile und herrsche; das Prinzip bestimmte bereits den analogen Medienkonsum. Wer informiert war oder es von sich glaubte, wurde mündig. Zumindest galt das für den männlichen Teil der Bevölkerung. Das gedruckte Leitmedium beanspruchte moralische Hoheit; institutionelle Zuordnungen griffen nicht mehr. Luthers Leistung – und die seines Teams – bestand darin, den gesellschaftlich neu verhandelten Geist auch spirituell so einzuordnen, dass es den Konsumgewohnheiten entsprach. Etwa mit den Freiheitsschriften (1520) oder der Confessio Augustana (1530). Die Volksbildung bezog „Knaben und Maidlein“ ein, wie Luther notierte, „damit Leben in Gemeinschaft gelinge“. Die Reformatoren versuchten so, die erste gesellschaftliche Transformation der Neuzeit in Worte zu fassen. Der Buchdruck hatte die Welt partizipativ und zugleich diffus werden lassen, weil Schutzräume, auch kommunikative, beim Tempo der technischen Innovation ungeklärt blieben, vergleichbar sozialen Medien heute. Die Reformation klärte einiges, nicht alles. Wo Kirche den Umwälzungsprozess nicht schnell genug zu begleiten vermochte, entglitt der Diskurs. Auch dieses Phänomen erodierter Mitte versus radikaler Ränder ist ein wiederkehrendes.
Das Beispiel Reuchlin-Melanchthon zeigt, dass das Verständnis von Innovation nicht mehr linear von einer Generation auf die folgende überging, sondern wie Kommunikation von innen nach außen verlagert wurde und sich das eigene Selbstverstehen reformierte. Dazu Kaufmann: „Die kulturellen Auswirkungen der ersten Medienrevolution zeigten sich im Abstand einiger Jahrzehnte, und dann begann sie, erhebliche gesellschaftliche Umwälzungen in Gang zu setzen.“ Er öffnet damit den Raum für Diskussionen, wie sie aktuell in den Transformationsstudien geführt werden: Wie eruptiv sind Veränderungen tatsächlich, ist der Blick auf die hohen Ausschläge nicht falsch angesetzt, weil Wandel gleitend vor sich geht? Sind entfesselte gesellschaftliche Transformationen „unter Druck“ (im Wortsinn) wirksamer, weil das Brennglas von Licht nach Dunkel ihre Akzeptanz beschleunigt?
Kaufmann denkt klein genug, um seinen roten Faden konsequent zu führen, und groß genug, um den Begriff der Medienrevolution ins Heute lancieren zu können, ohne dass er Gefahr läuft, den historischen Fokus seines Buchs zu verlieren. Kritik, er würde seiner Analyse der medialen Umwälzung damals keine Einschätzung der Digitalisierung heute folgen lassen, ist unbegründet. Denn das ist keineswegs Intention der „Druckmacher“. Die liegt vielmehr auf der prozesshaften Entwicklung öffentlicher Kommunikationsräume. Der Historiker ist ein rückwärtsgewandter Prophet, hat Friedrich Schlegel erkannt. Kaufmanns Herangehensweise ist entsprechend: Für den Historiker ist es zulässig, Gegenwärtiges in Kenntnis des Vergangenen zu diskutieren, die Wertung aber dort stehenzulassen.
Ergänzungen, Kritik und Praxisbeispiele sind herzlich willkommen!